Sich selbst eine Arbeit geben - statt repressive ALG II-Ermittler

Liebe Kolleginnen und Kollegen,
liebe Mitstreiterinnen und Mitstreiter,

am 11. Juni fand in Berlin ein Arbeitstreffen statt, wo leider nur Wenige anwesend sein konnten. Wir möchten noch einmal unsere Absicht bekräftigen, gemeinsam mit Euch auch in Zukunft Kampagnen zu entwickeln und in die Tat umzusetzen und machen daher hier einen Vorschlag zur Güte. Bei einigen Gruppen gibt es die Überlegung die Hartz-Parteien im Wahlkampf mit der Realität der Betroffenen und den eigenen Forderungen zu konfrontieren.
Beim geplanten „Treffen der sozialen Bewegung“ innerhalb des Erfurter Sozialforums wird wohl auch über einen Aktionstag im Rahmen einer solchen eingreifenden Kampagne diskutiert.
Der Zusammenschluss der Hartz-Proteste sollte innerhalb des 7. bundesweiten Treffens in Kassel am 9.7. überlegen, ob und wie er sich in diese Überlegungen gestaltend einbringen will. Dazu können sowohl Anlässe, wie der SPD-Parteitag in Berlin genutzt werden oder an einem selbst gesetzten Tag dezentral in den Städten oder regionalen Zusammenschlüssen organisiert werden. Folgender Aktionsvorschlag wurde auf dem Arbeitstreffen am 11.6. in Berlin diskutiert:

Zur Erläuterung
Ein Rückblick:

In den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts gab es Demonstrationen, bei denen Arbeiter Schilder trugen „Ich nehme jede Arbeit an“.
Die Hartz-IV-Parteien, die Arbeitgeberseite und ihre Medien tuten in diesen Tagen in genau dieses Horn: „Jede Arbeit für jeden Lohn ist zumutbar.“

Wir wollen die Konzept- und Fantasielosigkeit und die Aggressivität der Hartz IV-Bürokratie und die chaotische Marktvermittlung von Arbeit aufs Korn nehmen und zeigen, dass wir sehr wohl Alternativen zu bieten haben.
Wir machen Demonstrationen, bei denen verschiedene Schilder hochhalten mit der Aufschrift, dass wir gerne von uns selbst gewählte Arbeit, 30 Stunden die Woche machen würden (zum Beispiel):
„Ich würde gerne für 10 €/Stunde, 30 Stunden in der Woche alte Menschen betreuen.“ (Mindestlohn thematisieren)
oder „Ich würde gerne für 10 €/Stunde, 30 Stunden in der Woche als Festivalhelfer arbeiten.“
oder „Ich würde gerne für 10 €/Stunde, 30 Stunden i n der Woche als Schlosser/in arbeiten.“
oder „Ich würde gerne für 10 €/Stunde, 30 Stunden in der Woche als Verkäufer/in arbeiten.“

Die stetige Verlängerung der Wochen- und Lebensarbeitszeiten ist eine perverse Antwort auf die Notwendigkeit, durch Verkürzung von Arbeitszeit neue Arbeitsplätze zu schaffen. Wir ordnen uns nicht diesem Diktat des Marktes unter.
Wir warten nicht mehr darauf, dass die immer wieder heruntergebetete Formel, dass ein Konjunkturaufschwung oder Wachstum Arbeitsplätze schaffen würden, irgendeinen Realitätsgehalt gewinnen könnte. Zu oft haben wir alle inzwischen erlebt, dass Unternehmen, die riesige Gewinne machen, wie zum Beispiel die Deutsche Bank, im nächsten Moment Tausende Arbeitsplätze abbauen.
Wir sagen als Mitglieder dieser Gesellschaft, dass die Liberalisierung der Märkte ihre Grenzen hat. Und wir melden unsere Bedürfnisse an. Wir sagen, dass wir für einen menschenwürdigen Lohn gerne gesellschaftlich sinnvolle Arbeit selbstbestimmt leisten würden.

Um die Hartz-Proteste auszubreiten, sollten wir bei dieser etwas anderen Form von Demonstration auch immer den wachsenden Druck auf die erwerbstätigen Menschen mitthematisieren, die aus Angst um ihre Beschäftigung alle Zumutungen akzeptieren sollen, um die großen Gewinnspannen der Kapitalerträge weiter zu sichern.

Heutzutage sorgt jede Verbesserung der Produktionsmöglichkeiten für ein Anwachsen der Arbeitslosigkeit. Diese Schwächung der Arbeitnehmerseite führt zu Reallohneinbußen und zu immer längeren Arbeitszeiten.
Wer das nicht mitmacht oder auch trotz aller Selbsterniedrigung nicht vom Arbeitsmarkt gebraucht wird, soll überflüssig sein.
Unsere Alternative ist klar:
Es geht um den historischen Kampf um einen Neuen Normalarbeitstag. Neuer Normalarbeitstag hieße kurze Vollzeit für alle. Also ein 6-Stunden-Tag ohne Lohnverlust, der ein 4-Schicht-System ermöglicht. Ergänzt werden müsste die Diskussion darum durch die Erkämpfung effektiver Kontrollrechte der Belegschaften bei der Betriebsführung. So könnten statt erpresster Betriebsvereinbarungen, die erreichte Tarifregelungen untergraben die notwendigen Arbeitszeitverkürzungen gegen das Interesse der Anleger und Konzernleitungen durchgesetzt werden. Die bewährten umlagefinanzierten Sozialversicherungssysteme könnten dann wieder ihre Funktion erfüllen. Mehr Vollzeiterwerbsplätze und höhere Beitragbemessungsgrenzen garantieren dann die nötigen Zuflüsse.
Die nachhaltige Sicherung von Arbeitsplätzen, von denen wir leben können, und die Chance, gegen das Kapital wieder in die Offensive zu gelangen, ist das Ziel dieses Kampfes.

Aktuell sattelt die Hartz IV-Bürokratie aber – zusätzlich zu den schon bekannten Demütigungen – noch Eins drauf. Aus der Frankfurter Rundschau konnte man erfahren, dass Minister Clement in einem internen Schreiben an die Bundesagenturen angekündigt hat, dass 4000 Ermittler eingesetzt werden sollen, um Leistungsmissbrauch auf die Spur zu kommen. Das ist die Reaktion auf die mangelnden Vermittlungserfolge in Arbeit und auf die immensen Verwaltungskosten für den gesamten Hartz IV-Apparat:
Ein Heer von 4000 Beamten, das z.B. dafür zuständig sein soll, in die Privatsphäre von ALG II-Empfängern einzudringen und nachzuweisen, ob eine Bedarfsgemeinschaft vorliegt oder nicht, ob alle maßlosen Vorschriften, die der Hartz IV-Katalog bereit hält, eingehalten werden.
Es besteht kaum ein Zweifel: Wie so oft vor einem Bundestagswahlkampf wird wieder einmal eine Sozialschmarotzer- und Missbrauchskampagne vorbereitet. Was danach meistens folgt, sind weitere Kürzungen.

In dem Papier von Peter Grottian „Mut zur Wut“ ist ein sozial- und arbeitsmarktpolitisches Konzept und seine Finanzierbarkeit unter dem Unterpunkt „Sich selbst eine Arbeit geben. Den Arbeitsmarkt von unten dynamisieren“ ausführlich dargestellt.
Im Internet z.B. unter: http://www.labournet.de/diskussion/arbeit/aktionen/nsb_bt5rp.pdf

Die Kampagne soll von Demonstrationen im oben beschriebenen Stil getragen werden. Die Forderung nach einem Mindestlohn von 10 Euro und einer rigorosen Arbeitszeitverkürzung hin zu einem Neuen Normalarbeitstag von 6 Stunden soll als Bild unmissverständlich deutlich und medial präsent werden.
Ebenso sind in diesem Rahmen In-Arbeit-Besetzungen von Arbeitsstellen möglich, die in der Vergangenheit gestrichen wurden. So z.B. Besetzungen von Jugendzentren, um die Wiedereinrichtung von gesellschaftlich sinnvollen Stellen in der Stadtteilarbeit für Jugendliche zu fordern. Diese Aktionen müssen sich selbstverständlich jeweils nach der Situation vor Ort richten.

Begleiten möchten wir die Kampagne mit unserer Programmatik:

  1. Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens in Höhe von 850 Euro für alle einkommensarmen Menschen, zuzüglich der monatlichen Warmmiete und auf dem Weg dorthin die einheitliche Erhöhung der ALG II-Bezüge auf 938 Euro (Reichtums- und Armutsbericht)
  2. Gegen prekäre Beschäftigungen ein gesetzlicher Mindeststundenlohn von 10 Euro und eine radikale Arbeitszeitverkürzung auf 30 Wochenstunden bei Lohn und Personalausgleich
  3. Die zwangsweise zugewiesenen Ein-Euro-Beschäftigungsgelegenheiten müssen in freiwillige, rechtlich abgesicherte, sozialversicherungspflichtige Zehn-Euro-Arbeitsverhältnisse für gesellschaftlich sinnvolle Tätigkeiten umgewandelt werden.

Die Aktionsidee
Wir möchten die Forderungen gerne an einem dezentral bundesweit durchgeführten Aktionstag mit Demonstrationen der beschriebenen neuen Art und In-Arbeit- Besetzungen auf die Tagesordnung bringen. Strittig blieb der Punkt, ob dazu das Datum des Parteitages der SPD in Berlin am 30. August genutzt werden soll. Es wurde befürchtet, dass dort unsere Forderungen eher untergehen könnten, als wenn wir im Vertrauen auf unsere eigene Kraft z.B. an einem Samstag Ende August/Anfang September einen Aktionstag organisieren.
In jedem Fall soll gleichzeitig durch eine gemeinsame und auch bundesweit koordinierte Pressearbeit der Öffentlichkeit die Notwendigkeit und Machbarkeit einer grundlegenden gesellschaftlichen Alternative plausibel gemacht und unsere Programmatik vorgestellt werden.

Wir würden uns über Rückmeldungen zu dieser Aktionsidee freuen (Mailadressen: Soziale-bewegung-buero-kassel@web.de, momobuero@web.de).

Mit freundlichen Grüßen
Rainer Wahls, Roland Klautke, Peter Grottian (Berlin), Edgar Schu (Göttingen) und Renate Gass (Kassel) am 14. Juni 2005



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